Sonntag, 30. Dezember 2012

Kapitel 1.5 – Einseitiger Wachstumswahn

Auszug aus dem Buch »Gradido – Natürliche Ökonomie des Lebens«

»Deutschland, es geht um Wachstum.«
 - Angela Merkel
Deutsche Bundeskanzlerin

Die lebendige Natur wächst ständig. Jede Zelle und jede Pflanze, jedes Tier und jeder Mensch, alle haben sie eines gemeinsam: Wachstum. Innerhalb von sieben Jahren wachsen alle unsere Körperzellen nach. Das ist die eine Hälfte der Wahrheit – hier die andere: Die lebendige Natur vergeht ständig. In dem Maße, wie die neuen Zellen nachwachsen, sterben die alten ab. Diesen Vorgang nennen wir den Kreislauf des Lebens, den Kreislauf von Werden und Vergehen. Ohne Vergänglichkeit wäre unsere Erde schon längst aus allen Nähten geplatzt. Der Kreislauf von Werden und Vergehen ist ein Garant dafür, dass einerseits von allem genug da ist, andererseits alles Überflüssige verschwindet. Ein sich selbst regulierendes System.

Was hat die Volkswirtschaftslehre davon gelernt? Leider gar nichts! Der einseitige Wachstumswahn führt zu immer mehr Ausbeutung, Umweltzerstörung, Verdrängungswettbewerb – und zu Krieg um die immer weniger verbleibenden natürlichen Ressourcen. Vielleicht war das einseitige Wachstum noch ganz sinnvoll, als nur wenige Menschen die Erde bevölkerten. Auf diese Weise konnten sie sich über den ganzen Erdball ausbreiten. Doch wir wissen, dass natürliche Systeme sich umstellen müssen, wenn sie an die Grenzen des Wachstums stoßen. Versuchen sie weiter zu wachsen, kollabieren sie.

Auch hier zeigt uns die Natur, wie es geht. Das Zauberwort heißt Symbiose. Die verschiedenen Mitglieder eines Ökosystems kooperieren zum Wohle aller und erhalten dadurch ihre gemeinsame Lebensgrundlage. So offensichtlich das ist, so wenig wird es von uns Menschen beherzigt. Noch immer preisen unsere Politiker das Wirtschaftswachstum als das höchste Gut. Ja sie preisen sogar den Wachstums-Wettbewerb unter den Völkern: Ein Land mit hohen Wachstumsraten genießt in der Welt ein hohes Ansehen und bei den Banken eine gute Bonität. Das Wort Bonität kommt vom lateinischen Wort »bonus«, das heißt »gut«.

Mit dem Begriff »Wirtschaftswachstum« ist natürlich nicht der Kreislauf von Werden und Vergehen gemeint. Denn nach dem Nullsummenprinzip würde die Vergänglichkeit vom Wachstum abgezogen. Ein Unternehmen das gleichzeitig wächst und schrumpft, das sich also stetig erneuert und dadurch gesund erhält, würde in der Bilanz nicht als wachsend wahrgenommen werden, sondern als stagnierend. Und Stagnation bedeutet Rückschritt in einem von Konkurrenz umkämpften Markt.

»Wachstum um des Wachstums willen ist die Ideologie der Krebszelle.«
– Edward Abbey
am. Naturforscher, Philosoph und Schriftsteller

Bestimmt kennen Sie die Exponentialfunktion. Vielleicht nicht dem Namen nach, aber Sie kennen ihre Auswirkung. Stellen Sie sich eine Scheibe Brot vor, die im Brotkasten liegt. Eine Schimmel-Spore hat sich dort niedergelassen. Nun beginnt der Pilz zu wachsen. Nehmen wir an, dass sich seine Größe nach einer Stunde verdoppelt. Nach zwei Stunden ist er vier-, dann acht-, sechzehn-, zweiunddreißig- und nach zehn Stunden tausendmal so groß geworden. Die Größe vertausendfacht sich nach zehn Verdoppelungen.

Bis jetzt ist vielleicht noch gar nichts zu sehen. Doch es geht weiter: zweitausend, viertausend, achttausend... und nach insgesamt zwanzig Verdoppelungen sind wir bei einer Million. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man den ersten Schimmel sehen kann. Von da an ist nichts mehr zu retten, und es dauert nicht mehr lange, bis das Brot komplett verschimmelt ist.


Drei Phasen kennzeichnen die Exponentialfunktion:


  1. Zunächst sieht man eine lange Zeit gar nichts.
  2. Dann beginnt man etwas zu sehen
  3. Dann geht es ganz schnell – bis an die Grenzen des Wachstums.


Ein weiteres Beispiel: in einen wunderschönen See lässt im Frühjahr ein Vogel etwas fallen. Darin befindet sich der Same einer aggressiven Seerosenart. Die Seerose hat die Eigenschaft, sich innerhalb einer Woche zu verdoppeln. Zunächst ist es eine, dann zwei, dann vier... und nach zehn Wochen tausend Seerosen. Noch sieht das alles sehr schön aus. Doch nach insgesamt fünf Monaten, inzwischen ist es August, sind es schon eine Million. Etwa 3 % des Sees sind mit Seerosen bedeckt. Noch sind noch 97 % der Wasserfläche frei. Doch jetzt geht es ganz schnell: 6 %, 12 %, 24 %, 48 %, 96 % – bum! Ende September ist der ganze See mit Seerosen bedeckt. Keine freie Wasserfläche ist mehr vorhanden. Dabei sah zwei Wochen vorher noch alles ganz prima aus: drei Viertel der Wasserfläche waren noch frei. Das volle Ausmaß der Katastrophe wurde erst in den letzten Tagen sichtbar. Ein kluger Beobachter hätte das schon im April voraussehen können, zu einer Zeit, wo man noch gegensteuern konnte. Doch wahrscheinlich hätte man ihn als Miesmacher verschrien.  

Genau so geht es auch beim Wirtschaftswachstum. Die Funktion ist die Gleiche, es geht nur etwas langsamer. Bei fünf Prozent Wirtschaftswachstum haben wir die Verdoppelung nach fünfzehn Jahren. Nach dreißig Jahren vierfach, nach fünfundvierzig Jahren achtfach... und nach hundertfünfzig Jahren tausendfach.

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